Wie die Zeit vergeht! 2010 veranstaltete der damals noch extrem blutjunge Verlag Mondwolf seine erste Anthologieausschreibung. Das Thema: Sagengestalten aus Mitteleuropa
Ich bin ja so sehr norddeutsch, daß mir schon Abwandlungen von „Tschüß“ in der Seele quietschen, und natürlich wählte ich mit Klaxdonnersbüll ein Setting, das mir bekannt und vertraut war. Zum Wohlfühlen dörflich – und mit einem Geheimnis.
Ich wohne auf dem Land auf einem schönen Resthof. Auf der Suche nach einem solchen Domizil besichtigte ich auch einen alten, reetgedeckten Hof, Baujahr 1737, der unverschämt romantisch aussah. Während ich die Tenne besichtigte und über den Strohboden ging, konnte ich mir bei diesem Haus nur vorstellen, dass es einen Hausgeist geben muss, der all die Jahrhunderte auf das Haus achtgegeben hat. Seit diesem Maklertermin trug ich den Gedanken an diesen kleinen Nissen mit mir herum, die Ausschreibung war das Signal, die Geschichte zu erzählen.
Ich sprang aus dem Bett, zog eine Jeans und einen Pullover über den Pyjama, schnappte mir meine Taschenlampe und rannte hinab in das Erdgeschoss. Nun hörte ich das Weinen deutlicher. Es kam aus dem Garten vor dem Küchenfenster. Ich schlich lautlos durch meine Wohnung und blieb in der Küche stehen.
Ein Kind. So konnte nur ein Kind weinen. Leise, herzzerreißend und vollkommen traurig. Ich schloss die Tür zum Garten auf, widerstand dem Impuls, die Gartenbeleuchtung einzuschalten, öffnete die Tür und trat lautlos nach draußen.
Unter dem Apfelbaum war ein dunkler Schatten. Ich schaltete die Taschenlampe ein, und ihr Licht fiel auf eine kleine Gestalt in Lumpen, die erschrocken den Kopf hochriss, geblendet ins Licht starrte, sich aufrappelte und davonrennen wollte.
Ich bin kein überaus sportlicher Mensch. Aber ich arbeite mit Pferden, miste ihre Ställe aus und kann im Notfall sehr schnell reagieren. Dies war ein Notfall, denn das Lumpenkind wollte verschreckt vor mir wegrennen. Es humpelte – ich nicht! Ich ließ die Taschenlampe fallen, sprintete durch den Garten und bekam das Kind zu fassen, bevor es den Pferdestall umrunden konnte.